Alles mal entspannter angehen…

Perfektion ist eine Illusion

Trotz FFP2-Maske kann ich die Augenringe erkennen, als Nicole, wie immer ein wenig atemlos, zum Coachingtermin kommt. „Gestern Abend habe ich noch stundenlang an der Präsentation gefeilt, die ich heute den neuen Kollegen im Meeting vorstellen sollte – wieder und wieder habe ich noch etwas gefunden, das ich verbessern wollte – ich wollte mich ja schließlich von meiner besten Seite zeigen. Heute früh bin ich dann um 5 aufgestanden, um einen Geburtstagskuchen für meine Tochter zu backen und den Tisch zu dekorieren – es sollte ja alles perfekt sein. Direkt vor dem Meeting ist mir dann die Strumpfhose gerissen und ich habe festgestellt, dass ich auf dem IPad die alte Präsentation hatte, weil ich nachts vergaß, das noch zu überspielen. Die ganze Korrekturarbeit war also auch noch umsonst. Und jetzt plagt es mich, was wohl alle von mir denken werden.“

Vielleicht kein eleganter Schwan, aber sehr liebenswert und einzigartig.

Die Perfektionsfalle, da ist sie mal wieder! Immer wieder begegne ich ihr im Businesscoaching. Ganz besonders oft bei Frauen, die sich für Job, Kinder, Partnerschaft und Haushalt so optimieren, dass für sie selbst kaum noch Zeit und Kraft übrigbleiben. Und immer sage ich dann gerne: Perfektion ist eine Illusion.

Perfekt sein – wieso erwarten wir das eigentlich von uns?

Einige unserer hohen Ansprüche haben wir meist seit unserer Kindheit im Gepäck. Wir kennen sie aus der Erziehung oder der Schule: Sehr häufig wurde uns deutlich gezeigt, wie wir sein sollen, was man von uns erwartet und wann wir der Meinung anderer nach gut genug sind. Unser Verhalten und unsere Fehler führten zu Reaktionen, aus denen wir lernten und uns anpassten. Wer nach einem Misserfolg eher kritisiert und nicht getröstet oder liebevoll in den Arm genommen wird – oder sieht, dass man so etwas auch einmal mit Humor nehmen darf – der lernt schon sehr jung, dass der Weg zum Erfolg anstrengend und spaßfrei ist. Und verinnerlicht das Strengsein mit sich selbst.
Auch unsere Umgebung, Zeitschriften, Werbung, Filme und besonders Social Media zeigen uns jeden Tag, wie Perfektion auszusehen hat: Wir brauchen mindestens: Bestes Aussehen, körperliche Fitness, einen lückenlosen Lebenslauf, den perfekten Businesslook, 5 gesunde, selbstgekochte Mahlzeiten am Tag, die Motivation, täglich 10.000 Schritte zu gehen, makellose Haut mit 40, ein gestyltes Wohnzimmer, einen bienenfreundlichen Garten, regelmäßige Fortbildungen und Karrieresprünge, eine liebevoll dekorierte Brotzeitdose fürs Kindergartenkind, ausreichend Qualitytime mit dem Partner, und – wenn wir uns dann am Wochenende atemlos nur noch in der Jogginghose aufs Sofa legen wollen - müssen wir auch noch zum angesagten Outdoorwochenende ins Grüne fahren.

Was passiert, wenn gut sein nie reicht?

Möglicherweise bekommen wir durch so viel Aktivität sehr viel Anerkennung von Anderen im Außen, das gibt uns erst einmal die kurzfristige Sicherheit: Wir sind gut genug! Zumindest für den einen Moment als brillante Rednerin, perfekte Gastgeberin oder die Frau, die spielend Kind und Karriere wuppt. Bis dann schon wieder die nächste Aufgabe ansteht, die wir auch wieder perfekt erledigen müssen…

Innerlich zahlen wir so einen hohen Preis: Wenn immer alles perfekt sein soll, sind wir fortwährend unter Druck, haben nie das Gefühl, genug geleistet zu haben und erreichen das Ziel „perfekt zu sein“ nie. Das kostet uns sehr viel Zeit, oft auch unsere Motivation, es ist wahnsinnig anstrengend und endet schlimmstenfalls im Burnout.

Der Perfektionsfalle entkommen – wie geht das?

  1. Das Wichtigste: Gut mit sich umgehen und das Bewusstsein dafür zu entwickeln: Einzigartig und liebenswert bin ich mit meinen Stärken und meinen Schwächen. Ich muss mich nicht fortwährend mit anderen vergleichen - perfekt sind nur Maschinen!
  2. Vielleicht einmal überlegen: Finde ich nicht auch andere mit all ihren Ecken und Kanten sympathischer und die perfekt Erscheinenden eher verunsichernd oder irgendwie künstlich?
  3. Einem Fehler einfach mal mit einem „Na und“ begegnen (viele unserer Missgeschicke bemerken ohnehin nur wir selbst).
  4. Aufgaben objektiv angehen und sich fragen: Geht es hier noch darum, etwas gut zu machen? Oder ist es schon gut so und wir können einen Punkt machen. Dabei helfen oft auch einfache Limitierungen wie zum Beispiel: Ich lese den abzugebenden Bericht noch genau zweimal durch. Oder: Ich nehme mir eine Stunde Zeit, um die Wohnung aufzuräumen. Und wenn der Tag stressig und voller Aktivitäten war, dann kann ich auch abends einfach mal eine Pizza bestellen. Dabei hilft es, sich immer wieder einmal das Pareto-Prinzip bewusst zu machen: Es ist ohnehin so, dass wir mit 20 % unseres Einsatzes 80 % der Ergebnisse erzielen. Genügt das nicht?
  5. Statt dem perfekten Tag einen schönen Tag anstreben. Und diese Schönheit dann auch wirklich wahrnehmen: Platz für Genuss und Lachen schaffen, Aufgaben im Job immer wieder so gestalten, dass die Arbeit Freude macht, auch einmal faulenzen, wenn Geist und Körper es brauchen.

Mit Nicole habe ich im Coaching viel an diesem Thema gearbeitet. Wir haben herausgefunden, wann und wie für sie auch „Nicht-Perfektion“ in Ordnung ist und wie viele wunderbare Dinge stattdessen ihr ihr Leben bereichern werden.

Ihre überraschendste Erkenntnis, als sie darüber mit anderen sprach: Mit vielen Kolleginnen und Freundinnen fühlte sie sich sehr verbunden, zum Thema Perfektionsdrang und Scheitern hatte jede etwas zu erzählen. Lachend wurden Pleiten, Pech und Pannen ausgetauscht: Das Teilen von Geschichten, von der leer verschickten Bewerbungsmappe über den verbrannten Weihnachtsbraten bis zum nie genutzten Fitnessabo, erzeugte eine ganz besondere Nähe und viel gegenseitiges Verständnis.

„Und das Beste:", findet Nicole: "Ich sehe wieder die Wolken. Und suche nach Fabelwesen und seltsamen Tieren am Himmel“. Perfekt, finde ich ;-)

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